ich schau zum mond auf, der droben blickt.
LI Bai (701 – 762 n. Chr.)

Die Münchner Künstlerin Christiana Maria Stifter (geb. 1968) beschäftigt sich in ihren Werken mit der ältesten Schrift, die noch heute verwendet wird: der chinesischen. Es ist eine Symbolschrift, die im größten chinesischen Wörterbuch ca. 50.000 Schriftzeichen umfasst. Vor dem Hintergrund, dass hochgebildete Chinesen „nur“ ca. 6.000 dieser Zeichen beherrschen, davon aber mindestens 3.500 Zeichen notwendig sind, um eine Zeitung lesen und verstehen zu können, ist diese Schrift mit der in ihr enthaltenen Symbolik zugleich inkommensurabel wie faszinierend.
Seit mehr als 4.000 Jahren transportieren diese Zeichen ein kosmisches Gedächtnis: Wissen, Erfahrungen, Erlebnisse und Gefühle. Teilweise entwickelten sich diese Zeichen direkt aus Bildern; Symbole, die für Naturformen, für Gegenstände, aber auch Eigenschaften oder Zustände stehen, seltener für Personen oder Objekte.

Zur chinesischen Kultur gehört die indirekte Kommunikation. Abstrahierung ist zentrales Kunst- und Kulturprinzip, auch in der geschriebenen und gesprochenen Sprache. Kommunikation erfolgt nicht direkt, sondern vermittelt sich über die Symbolik der als Zeichen gefassten Worte.
In ihren Bildern knüpft Christiana Maria Stifter an diese Symbolschrift an. Komplexe Themen der alten chinesischen Literatur und Poesie behandelt die Künstlerin inhaltlich und formal mit einer besonderen, von ihr entwickelten Methode: dem dualen Signifikantismus. Dieser bildet den kompletten Gedankentext in einem Raster ab; in einem speziellen Verfahren wird er bildnerisch in Linien, Formen und Farben „übersetzt“.
Christiana Maria Stifters Bilder mögen auf den ersten Blick einfach zu erkennende, abstrahierte Darstellungen aus der Natur- und Tierwelt sein; Apfel, Blüte, Schmetterling, Fledermaus und Vogel – ebenfalls ein Herz – sind unzweideutig als Bildmotive zu erkennen. Die Botschaft dieser Bilder lässt sich jedoch erst auf direkter Augenhöhe erspüren. Im visuellen Abtasten der klaren Linienführung, der Formen und Farben vermag sich das innere Auge zu öffnen. Intimität entsteht. Man scheint sich auf einer Reise zu befinden, beschreitet die schwungvollen Linien als Straßen, Straßen, die Plätze rahmen oder den Blick ins Offene freigeben. Der Weg stellt sich als ein unendlicher dar; im Beschreiten wird man zum „Ich“ des Bilds und vermag dessen Ansprache als „Du“ zu vernehmen. Die Botschaft indes bleibt indirekt und diskret verschlüsselt, die Wirkung aber ist frappierend; der erste Bildeindruck ist nur noch scheinbar klar und eindeutig, man sieht sich einem Rätselbild gegenüber, das nach Dechiffrierung verlangt.

Christiana Maria Stifters Bildsprache ist signifizierend, indem sie Dinge oder Gefühle bildnerisch benennt. Die Bildwirkung ist signifikant: der Eindruck etwas Ausdrucksstarken und Bedeutungsvollem vermittelt sich schnell. Die Bildinterpretation jedoch verlangt die Dualität der Signifikanz: der Bedeutung des Bildes wird man sich erst nähern, indem man – gleich einer Zwiebel – seine einzelnen Schichten löst und in sie eindringt, den Blick in die Tiefe, nach Innen wagt. Bisweilen wird man sich die Augen reiben müssen…

Zur Methodik des dualen Signifikantismus seien einige seiner Elemente genannt: das Leitthema der literarischen Grundlage, der Gedichttext, ist in die königsblaue Linie „übersetzt“; als rahmende Linie markiert sie zugleich die Gegenständlichkeit des Bildes als auch Grenzen im Inneren. Binnenformen, die hieraus entstehen, bilden unterschiedliche Territorien und Sphären. Deren Beschaffenheit wird durch die Auswahl weiterer Bildfarben beschrieben: strahlendes Blattgold steht für Beständigkeit, satte, leicht abgetönte Bunttöne bezeichnen Lebendigkeit und Vergänglichkeit.

In Anlehnung an Bildsprachen von Miró, Braque, Niki de Saint Phalle und Britto, die großflächige und stark farbige Muster zu ihrem Prinzip machten, gehört Christiana Maria Stifter mit ihren Formenbildern zur klassischen Moderne, wobei sie expressionistische Einflüsse mit denen des Neo-Pops kombiniert.
Während in ihren ersten Bilder noch persönliche Aussagen über Liebe, Leben und Tod dominieren, interpretieren ihre jüngsten Werke Texte und Gedanken englischer und chinesischer Philosophen und Dichter.

Jährlich widmet Christiana Maria Stifter ein Werk einem Repräsentanten, den besonderes menschliches Engagement auszeichnet. Zu diesen gehören unter anderem der Altkanzler Gerhard Schröder, der Menschenrechtler Rüdiger Nehberg, Papst Benedikt XVI und der Ex-Staatsminister Christian Schwarz-Schilling. 
  

  

Text: Annette Remy A.M., anlässlich des Vortrags bei der Stiftung Ex Oriente im April 2011